Von der Literatur leben: Das wünschen sich viele Kreative. Sie wollen als Autorin, Übersetzer oder Lektorin hauptberuflich ihr Geld verdienen oder haben das Ziel, Literaturevents professionell zu veranstalten. In Berlin gibt es für alle diese Menschen eine Homebase: Die Lettrétage. Sie ist nicht nur eine Eventlocation, sondern unterstützt auch Freiberufler in der Berliner Literaturszene mit Beratung und Mentoring. Moritz Malsch und Linde Nadiani berichten über die Lettrétage und das Projekt „Schreiben & leben“.
Für wen dieser Artikel besonders interessant ist:
- Berufseinsteiger, Berufserfahrene, Neustarter und Sehnsüchtige
In diesem Artikel erfahren Sie:
- Wie das Literaturhaus Lettrétage die freie Literaturszene unterstützt.
- Wie die Lettrétage entstanden ist und vor welchen Herausforderungen sie aktuell steht.
- Was hinter dem Projekt „Schreiben-&-leben“ steckt.
- Linkempfehlungen.
Das Literaturhaus Lettrétage ist die Ankerinstitution der freien Literaturszene in Berlin. Warum brauchen Literaturschaffende und -vermittler so einen Ort?
Linde Nadiani: Dafür gibt es viele Gründe. Für den Austausch innerhalb der freien Literaturszene, für die Vernetzung, aber auch für die Selbstwahrnehmung der Szene ist so ein Ort, der allen gehören soll und den es in dieser Form in Berlin kein zweites Mal gibt, enorm wichtig. Allein schon weil er all den vielfältigen Initiativen im wahrsten Sinne des Wortes einen Raum gibt. Die Berliner Raumnot betrifft schließlich nicht nur den Mietenmarkt, sondern auch die freie Kunstszene.
Moritz Malsch: Alle Akteur*innen der freien Berliner Literaturszene – Veranstalter*innen, Autor*innen, Übersetzer*innen und so weiter – können unseren Veranstaltungsraum kostenlos nutzen, und zwar sowohl für literarische Lesungen oder Performances als auch für Vorträge und Workshops, die sich eher an ein Fachpublikum richten, oder für Vernetzungstreffen, Vereinssitzungen, Schreibgruppentreffen und vieles mehr. Zugleich sind wir mit unseren „Schreiben-&-leben“-Beratungen, unserem jährlichen „Branchentreff Literatur“ und vielen anderen Angeboten des Projekts „Schreiben & leben“ einen Anlaufpunkt für literarische Freelancer in fast allen Lebenslagen. Außerdem versucht die Lettrétage, mit eigenen lokalen und internationalen Veranstaltungsprojekten auch ästhetisch Akzente zu setzen.
Liebe zur Literatur
Wie, wann und warum kam es zur Gründung? Welche Rolle spielte dabei die Liebe zur Literatur?
Moritz Malsch: Ohne Liebe zur Literatur wäre das Ganze ja von vorne herein sinnlos gewesen. Finanziell können die Anreize jedenfalls nicht gewesen sein. Jedoch muss man ehrlicherweise sagen, dass wir auch ein bisschen zufällig ins literarische Veranstalten hineingestolpert sind. Der Veranstaltungsraum, ein größeres Wohnzimmer in unserem damaligen Gemeinschaftsbüro in einer wunderschönen Kreuzberger Gründerzeitvilla, war tatsächlich zuerst da. Das war 2006.
Der Raum drängte sich geradezu als literarischer Salon auf. Wir waren ein kleines Team aus dem Lyriker Tom Bresemann, der Literaturwissenschaftlerin Katharina Deloglu und mir, einem freien Lektor. Es gab noch andere, aber diese drei sind trotz aller Höhen und Tiefen der vergangenen 14 Jahre immer an Bord geblieben. Mit den heutigen Mieten wären wir allerdings sicher nicht auf diese Idee gekommen – das Risiko wäre viel zu groß gewesen.
Lettrétage: Vom Ehrenamt zur Ankerinstitution
Wie verlief die Entwicklung im Laufe der Jahre?
Moritz Malsch: Am Anfang haben wir über Eintrittsgelder und Getränkeverkauf die Miete bezahlt, alles andere war pures Ehrenamt. Dass es so etwas wie ein Fördersystem, Projektförderung et cetera gibt, hatten wir noch gar nicht gehört. Der Prozess der Professionalisierung begann dann aber relativ schnell: 2007 Vereinsgründung, 2008 der erste kleine erfolgreiche Förderantrag auf Bezirksebene, dann ging es weiter mit größer werdenden Veranstaltungsprojekten, die von zahlreichen Geldgebern wie dem Hauptstadtkulturfonds, der Bundeskulturstiftung, der Europäischen Union oder der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin gefördert wurden. Und ganz am Schluss stand dann eben die Ankerinstitution.
Linde Nadiani: Ein strukturell wichtiger Schritt war für uns der Beginn des von der EU geförderten Projekts „WiSU – wirtschaftliche Stärkung der Urheber*innen in der freien Literaturszene Berlin“ 2016. Damit hatten wir erstmals die Möglichkeit, über drei Jahr etwas für die Künstler*innen zu tun und nicht nur etwas für die Kunst. Seit Anfang 2018 erhalten wir eine Basisförderung des Berliner Senats.
Offenheit für die Vielfalt
Was zeichnet die Lettrétage heute aus?
Linde Nadiani: Das, was sie immer ausgezeichnet hat: Offenheit, Durchlässigkeit Mut zum ästhetischen Experiment, Engagement, integrative Kraft, Anschlussfähigkeit. Kern unserer Tätigkeitsbeschreibung ist das Gastgeben: Wir machen die Tür auf und jede*r soll sich willkommen fühlen. Die Lettrétage ist Unterzeichner der Erklärung der Vielen – die einzige Einschränkung unserer Offenheit ist also, dass wir rassistischem oder anderem rechten Gedankengut kein Podium bieten möchten.
Suche nach einem neuen Veranstaltungsort
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie aktuell?
Moritz Malsch: Die größte Herausforderung ist derzeit die Suche nach einem neuen Veranstaltungsort für die nächsten zwei bis drei Jahre. Unsere aktuelle Location am Mehringdamm 61 ist uns leider per Ende April gekündigt worden. Da wir ab etwa 2022 eine gute langfristige Lösung in Aussicht haben, suchen wir nun sehr intensiv eine Übergangslösung für alle unsere Aktivitäten und sind für gute Tipps jederzeit dankbar! Zugleich sind wir aber optimistisch, dass es nahtlos weitergehen wird, auch wenn wir in den kommenden paar Jahren vielleicht hin und wieder etwas improvisieren müssen.
Kooperation und eigene Projekte
Die Lettrétage ist mehr als ein Veranstaltungsort, sondern fördert auch verschiedene Projekte. Welche sind das und worum geht es dabei?
Linde Nadiani: Die Lettrétage an sich fördert keine Projekte in Sinne einer finanziellen Unterstützung, sondern kooperiert als Haus mit weiteren Literaturveranstalter*innen in Bezug auf Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, gezielter Beratung und der Verfügbarkeit eines Raumes. Einige Kooperationsprojekte der Lettrétage aus den vergangenen Jahren sind unter anderem einem Gebärdensprachpoesie-Projekt der Initiative Handverlesen oder eine Lesereihe der zweisprachigen Kulturwebsite DiablogVision. Die Lettrétage richtet regelmäßig auch eigene Literaturprojekte und Konferenzen aus, oft mit einem Schwerpunkt auf neue und internationale Literatur sowie Präsentationsformate.
Kreative mit Beratung stärken
Sie haben schon mehrfach das Projekt „Schreiben & leben“ erwähnt. Was hat es damit auf sich?
Moritz Malsch: Die Lettrétage richtete von 2016 bis 2019 – wie schon berichtet – das Projekt „WiSU“ aus. Daran anknüpfend starteten wir im Juni 2019 das Projekt „Schreiben & leben“. Dieses soll die ökonomische Basis von zum Beispiel freiberuflichen Autor*innen, Übersetzer*innen, Lektor*innen und freien Literaturveranstalter*innen langfristig und nachhaltig stärken. Wichtige neue Bestandteile sind ein Mentoring-Programm für literarische Kurator*innen sowie die Begleitung der Gründung einer literarischen Produzent*innengenossenschaft als Modellprojekt.
Linde Nadiani: Das umfangreiche Einzelberatungsprogramm wird fortgesetzt, auch der Branchentreff Literatur. Weiterhin stehen allen Literaturinteressierten auch der Berliner Literaturkalender – das gemeinsame Veranstaltungsplakat der Berliner Literaturveranstalter – sowie das gemeinsame Online-Ticketing-System für Literaturveranstaltungen zur Verfügung.
Prekäre ökonomische Basis von Literaturschaffenden
Das Projekt „Schreiben & leben“ unterstützt ja freiberuflich Tätige im Literaturbetrieb. Wie steht es in der Regel um ihre ökonomische Basis?
Moritz Malsch: In Berlin leben ungefähr 10.000 Literaturveranstalter*innen, Lektor*innen, Übersetzer*innen und Autor*innen, die meisten von ihnen sind freiberuflich tätig. Trotz großem Engagement ist ihre ökonomische Basis leider oft eine recht prekäre, was für eine künstlerische oder kuratorische Tätigkeit ja nicht die beste Voraussetzung ist. Man arbeitet sehr viel, wird aber spät oder nicht fair bezahlt und komplexe Materien wie Sozialversicherung, Abrechnung et cetera machen einem die Freiberuflichkeit und die Sicherung der eigenen Existenz auch nicht unbedingt leichter.
Mentoring und Beratung
Was raten Sie jemandem, der in Berlin freiberuflich im Literaturbetrieb arbeiten will? Was sollte er bedenken und wie sollte er vorgehen?
Linde Nadiani: Wer schon etwas Erfahrung mit Literaturveranstaltungen hat und das Veranstalten zum Beruf machen will, kann sich als Mentee in unserem Mentoring-Programm bewerben. Die Bewerbungsfrist läuft noch bis zum 7. Februar. Hier hat man die Chance, dass die eigene Projektidee von der Antragsstellung über das Projektmanagement bis hin zur Schlussabrechnung von jemandem mit großer Erfahrung im literarischen Veranstalten begleitet wird.
Moritz Malsch: Autor*innen, Lektor*innen, Übersetzer*innen können sich im Rahmen unseres Einzelberatungsprogramms beraten lassen und so einen Überblick gewinnen, welche Wege ihnen offen stehen. Ansonsten kann ich immer nur dazu raten, Anschluss und Austausch zu suchen, sei es über uns als Ankerinstitution, sei es über Berufsverbände oder sei es über unmittelbare Kooperation mit Kolleg*innen, etwa innerhalb eines Gemeinschaftsbüros, eines Kollektivs oder einer Genossenschaft. Über all diese Kanäle erfährt man, wie man am besten vorgeht und was man neben fachlicher Expertise und kreativem Können auf dem jeweiligen Feld noch benötigt.
Tipps für Kreative
Sie selbst arbeiten im Literaturbetrieb. Würden Sie anderen raten, ihrer Sehnsucht nachzugehen und dies ebenfalls zu versuchen?
Moritz Malsch: Auf jeden Fall, denn es arbeitet sich noch besser, wenn die Inhalte einen ansprechen und man dafür brennt. Allerdings sollte es einem auch klar sein, dass trotz vieler Besserungen und Veränderungen Tätigkeiten in Kultur- und insbesondere im Literaturbetrieb oft immer noch mit prekären Arbeitsverhältnissen einhergehen und es große Unterschiede zum Beispiel zwischen einer Laufbahn im Verlagswesen und der Realität als freie/r Lektor*in gibt.
Wovon sollten sich künftige Literaturschaffende nicht abschrecken lassen?
Linde Nadiani: Insbesondere für Autorinnen und Autoren ist der Weg zum Erfolg oft lang und ungewiss. Bei einigen Textgattungen wie Lyrik oder Essay mehr als bei anderen. Auf dem Weg zum Erfolg muss man sich oft den verschiedensten Bewertungsinstanzen stellen wie Auswahljurys, Literaturagent*innen, Verleger*innen, künstlerischen Leiter*innen, Kritiker*innen, Leser*innen. Man sollte hier eine gewisse Robustheit und Frustrationstoleranz mitbringen und sich bei Kritik und Misserfolg immer sagen, dass nur eine Sache wirklich schlimm ist: Wenn gar niemand den Text liest.
Wo finden Berufsanfängerinnen und -anfänger Rat und Hilfe?
Moritz Malsch: Berufsanfänger*innen sollten versuchen ihr Netzwerk zu erweitern und sich möglichst viel mit erfahreneren Kolleg*innen austauschen, Beratungsangebote wie das von „Schreiben & leben“ wahrnehmen und gezielt Stammtische aufsuchen, zum Beispiel die des Netzwerks freie Literaturszene Berlin. Solche Zusammenkünfte geben einen guten Einblick in die literarische Vielfalt und Akteur*innen einer Stadt und helfen dabei, Anschluss an die Literaturszene zu finden.
Fragen an Sie:
Ich freue mich, dass Sie diesen Artikel gelesen haben! Jetzt möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen:
- Sind Sie als Kreativer in der Literaturszene unterwegs?
- Wollen Sie davon leben?
- Was treibt Sie an und was ist Ihre Sehnsucht?
- Wenn Sie selbst schon von Ihrer Kreativität leben: Welche Tipps würden Sie Anderen geben?
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(Veröffentlicht Januar 2020)
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